Erziehung ist heute eine Reise ohne Landkarte

shutterstock 218496160

Ich bin eine Mama, die sich im Alltag mit den Kindern, den Erziehungsherausforderungen und den wachsenden Anforderungen an meine Rolle als Elternteil immer wieder überfordert fühlt. Oft überlege ich, was ich nun tun soll, wie ich reagieren und handeln soll, statt einfach auf mein Bauchgefühl zu achten.

Bauchgefühl, das von vielen Wissenschaftlern angezweifelt wird.

Dr. Renz-Polster geht z.B. davon aus, dass das Bauchgefühl nicht naturgegeben ist, sondern auf dem impliziten Lernen beruht: Alle Erfahrungen, die wir in unserem Leben sammeln, werden durch Gelesenes oder Gehörtes ergänzt. Intuition ist also nicht mehr als das Ergebis unserer Erfahrungen und keinesfalls naturgegeben. Meistens spielen bei diesen Überlegungen auch gesellschaftliche Erwartungen mit – also: Was wird von mir erwartet? Wie macht „man“ es richtig? Manchmal fühle ich mich dann überfordert. Daraus mache ich kein Geheimnis – ich denke, es ist sehr menschlich und ich weiß, dass ich mit diesem Gefühl nicht alleine bin. Wie reagiert man richtig? Wie verhält man sich richtig? Wie erzieht man richtig? Wurden Kindern, die sich nicht benehmen können, einfach keine Grenzen gesetzt? Fehlt es mir an Konsequenz in der Erziehung? Müssen Kinder auch einfach einmal hören, ohne lange Erklärungen und Diskussionen? Wieviel soll ich mein Kind loben und wie kann ich mein Kind dabei unterstützen, aktiv zu teilen?

Und immer wieder der Satz: „Früher hätte es so etwas nicht gegeben……“

 

Früher hätte es das nicht gegeben – wie Erziehung früher funktionierte

Früher war es eigentlich ganz einfach: Man bekam Kinder, meist unerwartet und unerwünscht aufgrund fehlender Möglichkeiten zur Empfängnisverhütung und es gab auch nicht so viele Erziehungsstile wie heute. In den letzten 30 Jahren  hat sich die Elternschaft grundlegend verändert: Früher war die Elternschaft ein klares, unhinterfragtes Lebensmodell. Es gab so etwas wie eine Anleitung, eine Richtung, die vorgegeben war und der sich die Frauen fügten. Sie taten, was erwartet wurde. Wahrscheinlich auch damals nicht alle, aber doch ein Großteil. Und diese Erziehungsrelikte wirken bis heute, wirken in uns. Schließlich gab es von DEM Ratgeber der NS-Zeit von Haarer „Die deutsche Mutter und ihr Kind“ 1995 die letzte Auflage. Unsere Großeltern und Urgroßeltern wurden in einer Zeit geboren, in der die oberste Priorität darin bestand, dem Kind Disziplin zu vermitteln. Es galt, das Kind abzuhärten, ihm ja nicht zu viel Zuwendung zu schenken, auf seine Gefühle nicht einzugehen, es weinen zu lassen, weil das würde die Lunge stärken es ja nicht zu verzärteln. Es gab Richtlinien, die befolgt wurden. Gefühle oder Bindung hatten keinen Raum in der Erziehung. Stattdessen sollte das Baby so oft wie möglich abgelegt werden, das Baby sollte nicht getröstet werden, auf das Weinen sollte am besten nicht reagiert werden und möglichst früh sollte das Baby lernen, alleine einzuschlafen. Unterordnung, Gehorsam, Pünktlichkeit und Sauberkeit waren die Ziele –wer sich nicht daran hielt, wurde bestraft.

Das Thema Erziehung wird aber heute differenzierter betrachtet: Erziehungspraktiken wie das Bestrafen oder das Belohnen von Kindern zur Erreichung des Gehorsams wurden mehr und mehr in Frage gestellt und so entstanden eine Reihe von Modellen, wie Erziehung funktionieren kann.

Die Emanzipation des Kindes

Seit den 1980er Jahren nahm jedoch die Emanzipation des Kindes zu. Das Kind wurde hinsichtlich seiner Rechte den Eltern möglichst gleichgestellt, von Pflichten wurde es weitgehend befreit. Die Eltern waren keine Respektsperson mehr, sondern eine Vertrauensperson, die Hierarchisierung löste sich langsam auf. Das Kind stand zunehmend stärker im Mittelpunkt und die Eltern waren bemüht, ihr Leben um das Kind herum zu richten. Kinder mussten deutlich weniger im Haushalt mithelfen und hatten auch sonst weniger Pflichten. Statt körperlichen Bestrafungen wurde  diskutiert und verhandelt.

Der positive Effekt dieser Wandlung: Das emotionale Band zwischen Eltern und Kindern ist stärker geworden. Bindung wurde zu einem Schlüsselwort der heutigen Elterngeneration, die es als ihre Aufgabe sieht, möglichst rasch und immer auf die Bedürfnisse eines Kindes einzugehen, ihnen Wurzeln und Flügeln zu geben. Daraus resultiert eine sehr partnerschaftliche Eltern-Kind-Beziehung, bei der alte Erziehungsziele wie Anpassung und Gehorsam abgelöst wurden. Aber noch etwas passierte: Elternschaft ist heute frei, ohne eine bestimmte Richtung. Jeder hat seine Meinung dazu und jeder glaubt, es richtig zu machen. So kommt natürlich auch Kritik auf, dass Eltern ihre Kinder nicht mehr im Griff haben, ihnen Grenzen setzen müssten, dass sie zu Tyrannen werden, dass sie kleine narzisstische Persönlichkeiten werden, die glauben, alles dreht sich nur um sie. Dass diese Kritik auftaucht ist nicht schwer verständlich, denn niemand weiß, wie sich unsere Erziehung auf die Zukunft auswirkt. Eltern sind dann diejenigen, die die gesellschaftliche Verunsicherung tragen müssen.

andre-sternWarum unsere Kinder aber keine Tyrannen werden

Aktuell ist wieder eine Debatte im Gange, die darauf abzielt, Eltern zu verunsichern: Kinder, die zu lange gestillt werden, zu lange im Familienbett zu schlafen und denen es sowieso und überhaupt an Grenzen und Disziplin fehlt, werden zu Tyrannen. Kein Wunder, dass sich Eltern dann immer wieder fragen, ob ihr Bauchgefühl überhaupt richtig ist, ob sie sich darauf verlassen dürfen oder ob sie tatsächlich zum Wohle ihrer Kinder strenger sein müssten. Denn so unterschiedlich die Erziehungsstile immer aussahen, sie hatten eines gemeinsam: Alle Eltern wollten immer das Beste für ihre Kinder.

Es kann jedoch keinen einheitlichen Plan geben, wie Kinder groß werden, weil jedes Kind, jeder Elternteil und jede Familie anders ist. Wir als Eltern haben die Verantwortung, unsere Kinder in ihrer Persönlichkeit wahrzunehmen, auf ihre Bedürfnisse zu reagieren und dabei so zu handeln, dass weder unsere eigenen Grenzen übertreten werden, noch die Integrität unserer Kinder verletzt wird.

Einem Kind, das weinend im Supermarkt am Boden liegt, fehlt es nicht an Grenzen, sondern es fehlt ihm an der Fähigkeit, seine Gefühle zu kontrollieren. Dafür ist es mit drei Jahren einfach noch zu jung – es verfügt noch über eine Impulskontrolle. Was Kinder in dieser Situation brauchen sind starke Erwachsene, die sich seiner Bedürfnisse annehmen, ihnen Raum geben und so dem Kind zugestehen, es sich entsprechend seinem Entwicklungsstand zu verhalten und an sich zu wachsen. Nur weil ich in dieser Situation abgewartet habe heißt es nicht, dass es keine Grenzen gibt – es gibt meine persönlichen Grenzen. Mit Sicherheit hätte ich nach ein paar Minuten mein Kind hochgenommen, wenn es sich nicht selbst beruhigt hätte und hätte meinen Einkauf fortgesetzt. Aber ja, ich hätte nicht mit ihm geschimpft, denn mein Kind soll erfahren, dass seine Gefühle in Ordnung sind und es soll sich als Mensch angenommen fühlen. Ich verziehe mein Kind nicht, wenn ich seine Bedürfnisse im Auge behalte. Davon bin ich überzeugt.

das-macht-man-so-erziehungErziehung ist heute eine Reise ohne Landkarte

….. oder „das-macht-man-doch-so“-Gespenst

Erziehen ist heute eine Reise ohne Landkarte. Als Mama stand ich plötzlich vor der Herausforderung alte Vorstellungen über den Haufen zu werfen, mich von den „das-macht-man-so“ Prinzipien zu verabschieden und ich musste mir neue Herangehensweisen für meine Familie überlegen. Das „man“-Prinzip funktioniert nicht mehr, es gibt nicht mehr den EINEN Weg, an den Eltern sich orientieren können, sondern es gibt viele Wege und Möglichkeiten, wie Kinder heute groß werden. Doch immer, wenn sich meine Kinder im öffentlichen Raum nicht den gesellschaftlichen Erwartungen (also meist leise und auffällig) entsprechend verhalten, spüre ich die Spukgewalt des „das-macht-man-so“-Gespenstes. Fremde Menschen mischen sich ein, geben mir Tipps und raten mir, ich solle durchgreifen, meinem Kind Grenzen setzen und ihm zeigen, wo es langgeht. Ich spüre die unausgesprochenen Fragen, Verurteilungen und Gedanken und dann natürlich die „Also wenn ich einmal Kinder habe…..“-Besserwisser.  Dazu kommt noch ein rasanter gesellschaftlicher Wandel, der die Herausforderungen ans Eltern-Sein ins Unermessliche steigert: Ratgeber sagen einem, wie Erziehung RICHTIG funktioniert:

Erfolgreich soll das Kind sein, aber natürlich nicht rücksichtslos. Als sozial kompetentes Wesen wird das Kind vielmehr davon überzeugt, das Richtige zu tun. Tolerant soll der Nachwuchs sein, sportlich auch. (welt.de)

Freiheit und Wahlmöglichkeiten, Entscheidungsfreiheiten – das sind schöne Sachen, die ich am Eltern-Sein heute auch sehr schätze. Aber es ist oft schwer, mit der selbstgemalten Landkarte das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren und dabei nicht unsicher zu werden, wenn es doch scheinbar um einen herum überall leichter funktioniert und jeder besser weiß, wie Erziehung funktioniert.  Ich ertappe mich selbst dabei, wie ich mir mein Bauchgefühl selbst bewusst machen muss und mich daran erinnere, wie mein Weg aussehen soll, um nicht in alte Muster zu fallen, mit denen ich aufgewachsen bin. Ich wachse täglich mit meinem Kind über mich hinaus und diese Situation im Supermarkt war wieder so eine: Eine, die mir sehr unangenehm war, weil es mir oft schwerfällt, die Reaktionen meiner Mitmenschen auszuhalten, aber eine, von der ich weiß, dass ich sie mit meinem 100%igen Bauchgefühl gelöst habe. Und je öfter ich dem „das-macht-man-so“-Gespenst zeige, dass es auch anders geht, desto sicherer fühle ich mich.

Auch ich begegne diesem „das-macht-man-so“-Gespenst immer wieder und ertappe mich dabei, dass ich mich dadurch verunsichern lasse und aus dem Gleichgewicht gerate. Vieles, was ich nicht kenne, macht mir Angst und ich denke, so geht es anderen Menschen auch damit.

Und wie es ein Leser auf unserer facebook-Seite so treffend geschrieben hat:

Fazit: drauf gsch*ssen was andere denken oder sagen.

 

TEILEN