Brief eines hochsensiblen Kindes

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Liebe Mama,

es tut mir leid, wenn ich dir manchmal das Leben schwer mache. Doch ich mache es nicht mit Absicht. Ich weiß ja selber nicht genau, was mit mir los ist. Ich weiß nur, dass mir manchmal alles zu viel ist. Und dann weine ich. Viel. Weil wenn ich weine, dann fühle ich mich besser. Ich kann dann gar nicht aufhören, weil es mir so gut tut, einfach mal alles rauszulassen. Ich blicke dann in dein verzweifeltes Gesicht und wünsche mir, du könntest mich verstehen. Ich wünsche mir, du könntest mich einfach halten und nicht nach einem Namen für mein „Problem“ suchen. Weder sind es Bauchschmerzen, noch die Zähne, noch werde ich krank und es ist auch keine Phase: Das bin ich. Und ich brauche dich. Ich weiß, dass ihr alles für mich tut und probiert, mich zu beruhigen. Manchmal glaube ich, du willst mich nicht beruhigen, sondern mich optimieren. Dann packst du ein Programm aus, spulst es ab, probiert Globuli, Haltegriffe und sonstiges aus. Aber ich kann mich nicht beruhigen. Ich muss weinen, damit es mir besser geht. Mir ist manchmal einfach alles zu viel.

Es ist mir zu viel, wenn du mich zum Einkaufen mitnimmst. Jedes Mal. Ich sehe, rieche und höre da so viel gleichzeitig, dass es mir schon fast weh tut. Die vielen Stimmen, die alle durcheinander reden, die vielen Gerüche, die ich noch gar nicht kenne, die aber auf mich einströmen, die vielen Lichter, die Anzeigen, die Blinktafeln, die Fernseher, dein Smartphone – ich komme gar nicht nach, alles zu verarbeiten. Das alles geht mir unter die Haut und ich möchte dann aus meiner Haut, aber ich kann nicht. In mir staut sich alles. Mir wird heiß und kalt, ich zittere am ganzen Körper, ich möchte nur noch weg. Aber ich kann nicht weg, weil ich an deiner Hand bin oder du mich trägst. Doch du bist so abgelenkt, so weit weg von mir, dass du meine Hilferufe nicht siehst. Und dann überkommt es mich plötzlich – ich bin selbst davon überrascht. Ich schreie los, ich werfe mich auf den Boden und versuche, meine Haut loszuwerden und diese ganzen Gerüche, Geräusche und Bilder aus meinem Kopf zu bekommen. Ich kann nichts dagegen tun. Du schimpfst dann mit mir, du wirst wütend, du zerrst mich am Arm und drohst mir mit dem Zeigefinger oder damit, dass ich dann kein Eis mehr bekomme. Aber ich halte es einfach nicht mehr aus!

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Ich halte es auch nicht aus, wenn du mir ein T-Shirt anziehst, das sich eng an meinen Körper schmiegt. Das engt mich ein und nimmt mir die Luft zum Atmen. Es kratzt, es juckt, das Etikett stört und auch der Zipp, mit dem das T-Shirt bis weit nach oben geschlossen wird. Es fühlt sich an wie ein Stacheldraht, wie tausend kleine Spitzen. Es ist eng, es schnürt mich ein und ich spüre, ich muss da raus. Ich ziehe herum, ich dehne es in alle Richtungen und du schimpfst, weil ich mir dann mein T-Shirt kaputt mache und das kostet doch Geld. Doch ich muss da raus. Meine ganze Haut brennt, mir wird heiß, ich raste aus. Es fühlt sich an wie ein Korsett. Und das schlimmste ist, wenn ich nass werde. Ich habe schon gemerkt, dass du es nicht verstehst, weil du dann meinst, ich solle mich nicht so anstellen, es ist ja nur Wasser. Für mich ist es nicht nur Wasser. Für mich ist es ein Horror, diese nassen Sachen auf meiner Haut zu spüren.  Dabei hast du schon gemerkt, dass ich Berührungen nicht mag. Ich bin da empfindlich. Ich weiß, du wolltest mir mit der Babymassage eine Freude machen, aber weißt du das was Mama? Mir tun diese Berührungen nicht so gut wie meiner Schwester. Sie sind unangenehm, sie tun fast weh, auch, wenn du ganz behutsam bist. Mir ist es zu viel, zu viel an Reizen und ich fühle mich überfordert, wenn du mich massiert. Ich weine und ich schreie, aber du hörst nicht auf. Du sagst, ich bin ein Sensibelchen. Ja, ich bin sensibel. Aber bitte, greif mich nicht so an.

Mama, es ist mir auch zu viel, wenn ich fernsehe. Diese schnellen Bilder hintereinander überfordern mich – ich komme gar nicht dazu, alles zu verarbeiten. Nur ich kann auch nicht wegschauen. Es macht mir ja Spaß und ich freue mich, wenn ich fernschauen darf. Aber es ist zu viel. Es geht viel zu schnell. Deswegen bin ich aber kein komisches Kind, wenn ich dann zu weinen beginne. Ich finde es nicht lustig, wenn Winnie Pooh kopfüber in den Honigtopf fällt oder der Tyrannosaurus Rex jagt auf den kleinen Little Food macht. Diese Spannung geht mir direkt unter die Haut, ich fühle mit, wieviel Angst der kleine Little Food haben muss. Genauso spüre ich aber auch, wenn du mit Papa gestritten hast oder es in der Arbeit nicht so gut gelaufen ist und du noch unter Strom stehst. Ich kann dann gar nicht anders als darauf zu reagieren, weil ich deine Sorgen spüre. Also werde ich launisch, weine, spiegle dich. Aber du merkst es gar nicht, dass nicht ich das Problem bin, sondern du. Dann bist du wütend und schreist mich an, dass auch dein Tag anstrengend war. Aber Mama, das weiß ich doch. Ich weiß nur nicht, wohin mit meinen Gefühlen.

Ich bin auch nicht so schnell wie du Mama. Ich kann mit dir gar nicht mithalten, so schnell bist du manchmal. Eine Aktivität jagt die nächste: Von einem Termin zum nächsten, vom Spielplatz, zum Einkaufen, zur Nachbarin, in die Küche – mir ist das zu schnell. Ich brauche länger als du. In meinem Kopf dreht sich dann alles und ich kann mich gar nicht mehr konzentrieren. Du sagst dann, ich bin eine Träumerin oder ich trödle. Ich merke, wie du wütend wirst, weil ich lieber die Ameisenstraße beobachte als mich zu beeilen. Oder weil ich doch lieber die rote Hose anziehen möchte, statt die blaue. Ich trödle aber nicht. Ich habe nur gar keine Chance mit dir mitzuhalten, weil du mir auch nicht sagst, was als nächstes kommt. Ich kann mich nicht so schnell auf neue Situationen einstellen, ich brauche ein wenig Zeit dazu.

Mama, es verletzt mich, wenn du mir sagst, ich soll mich nicht so anstellen, nicht so empfindlich oder angerührt sein. Ich bin nicht empfindlich, ich bin empfindsam. So wie jeder Mensch. Nur bin ich ein Stück mehr empfindsam. Ich merke, dass ich anders bin, als du mich haben möchtest und ich weiß nicht, was ich tun kann, damit ich so bin, wie du mich willst. Ich wünsche mir, dass du mich liebst – so, wie ich bin. Mama, ich möchte dir gefallen, ich möchte immer alles so machen, wie du es gerne möchtest. Aber das kann ich nicht. Ich spüre meine Grenzen und ich wünsche mir, dass auch du sie eines Tages spürst.

Deine Prinzessin auf der Erbse, wie du mich im Spaß nennst – zumindest glaube ich, dass es nur Spaß ist.

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1 KOMMENTAR

  1. Herzlichen Dank für diesen wunderbaren Beitrag, der es so auf den Punkt bringt. Mir ziehts das Herz zusammen, wenn ich so manches miterlebe … oder mich an manches erinnere … mir gings teilweise auch so … bei meinen Kindern hatte ich es schon erkannt, aber es war nicht leicht, dafür einzutreten (Schule usw.) Auch beim Fernsehen war mir das bewusst. Eine große Herausforderung. Danke nochmals! Habs auf FB geteilt und würde das auch gerne in meinen Newsletter aufnehmen.
    Herzliche Grüße – Anna Maria Winklehner