Wie viel Nein verträgt ein Kind?

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Manchmal finde ich mich als Mutter zum Kotzen. Manchmal bin ich genauso, wie ich mir immer vorgenommen habe, nicht zu sein. Dann ärgere ich mich über mein Verhalten, denn ich weiß, es ist nicht in Ordnung. Derzeit ist wieder so eine Phase (ja, die haben auch Mütter, nicht nur Kinder).

Es ist eine ganz einfache Rechnung:

2+1 = Nein. Zwei Kinder in der Wackelzahnpubertät und ein Kind in der Autonomiephase bedeuten den inflationären Gebrauch des N-Wortes. Das nervt nicht nur mich, sondern auch die Kinder, die von meiner Miesepeterlaune nicht besonders angetan sind. Ich ja auch nicht, wie könnte ich es dann also von ihnen verlangen? Die Krux an der Geschichte: Nein wirkt nicht. Und das hat seine Gründe.

Ein Nein mit Folgen

Ich kann gar nicht sagen, wann das erste Mal das Wort „Nein“ fiel, weil ich gar nicht darauf geachtet habe. Dabei hätte ich es tun soll, um das „catching ‚em being good“ auszuprobieren – das Positive sehen, nicht das Negative. Eine Klassikersituation war bei uns immer die Steckdose: Kind griff zur Steckdose, ich sagte „NEIN“ und nahm das Kind weg, um ihm etwas Interessanteres zu zeigen. Ein Ablenkungsmanöver also, denn die nötige Impulskontrolle hat ein Krabbelkind einfach noch nicht, wenn es mit großen Augen dennoch wieder hin greift. Das positive Herausnehmen aus der Situation, um sich etwa einer gemeinsamen Aktivitäten zu widmen, ist ein wesentlicher Schritt beim Erlernen, was das Wort „Nein“ eigentlich bedeutet. Anders wäre es, würde das Kind als Strafe in den Krabbelkäfer/Laufstall gesetzt werden. Das Kind weint.

Kinder kommen nicht mit dem Impuls zur Welt, ihren Eltern zu gehorchen – das müssen sie lernen. Und Lernen klappt immer besser mit positiven Effekten und Rückmeldungen, als mit Strafen und Verboten. Anfangs ist es für das Baby ein Spiel, denn es kann das Wörtchen Nein noch nicht einordnen – es merkt nur, wenn ich in die Steckdose greife, dann spricht Mama anders mit mir. Und wenn ich wieder hin greife? Dann macht Mama das wieder. Super! Parallel erreichen uns dann Anfragen, was man tun kann, wenn das Baby einfach nicht hört und dabei lacht. Und wir setzen uns hin, denken darüber nach und schreiben diesen Artikel.

Nein belastet die Mutter-Kind-Bindung

Für Minimi sind die Welt und ihre Umgebung ein großer Abenteuerspielplatz: Alles muss probiert werden, angefasst, geworfen, gedrückt, gezogen etc. werden – ihre kleinen Hände leisten jeden Tag Großes, sie sind den ganzen Tag damit beschäftigt, die Welt zu entdecken. Sie muss erforschen, ob das Licht auch beim 50. Mal noch immer an- und ausgeht, ob der Baustein auch jedes Mal auf den Boden fällt wenn sie loslässt und ob die Schwester immer wütend reagiert, wenn sie ihre Türme zerstört. Ihr Entdeckerwille ist ungebremst und das ist gut. Ihre kindliche Neugier ist etwas, das möchte ich unbedingt erhalten – schließlich ist sie die Basis für weiteres Lernen.

In meiner Welt ist logisch, dass nicht alles geht – sie kann nicht einfach auf die Herdplatte greifen, den heißen Suppentopf tragen, auf die Straße laufen oder die Klopapierrolle in der Toilette versenken. Ganz ohne Verbote komme ich trotz vorbereiteter Umgebung nicht aus.

Dr. Gerald Hüther sagt, dass Verbote das Verhältnis zwischen Eltern und Kind belasten – zwar beenden Kinder ihr Verhalten nach einem harschen Nein der Mutter vorerst, doch das Kind stellt in erster Linie seine Verbundenheit mit der Mutter in Frage – es kann noch nicht zwischen der Kritik an seiner Handlung und seiner Person unterscheiden. In den ersten zwei Jahren, bis die Ich-Entwicklung und damit die Wahrnehmung als eigenständige Person beginnt, ist (überspitzt gesagt) jedes Verbot eine Ablehnung ihrer Person aus Sicht des Kindes. Was wäre dann die Konsequenz? Ein freundliches Nein mit einem Lächeln auf den Lippen?

Dazu muss wiederum ein Blick in die Gehirnentwicklung geworfen werden: Botschaften, die mit Gefühlen und Stimmungen ausgesprochen werden, bleiben eher hängen als ein beiläufig gesagtes „Nein“ ohne einer emotionalen Beteiligung. Kinder können hier noch nicht differenzieren, weil sie Sprach- und Weltverständnis in den ersten zwei Jahren soweit ausgebildet ist. Das bedeutet nun nicht, dass das Kind angeschrien werden muss, denn nur weil etwas lauter gesagt wird, hat es nicht mehr Gewichtung.

Zwar wird das Nein Erfolg haben, doch die Frage ist, warum: Nicht, weil das Kind etwas gelernt hat, sondern weil es Angst hatte. Vielmehr geht es um einen bindungsorientierten Umgang mit Verboten: Mary Ainsworth erforschte bereits in den 70er-Jahren, dass Kinder feinfühliger und empathischer Eltern, die auf die Bedürfnisse ihrer Kinder reagieren, eher einwilligen und Ver- bzw. Gebote beachteten. Die Erste-Hilfe-Regel mit Anschauen, berühren, ansprechen kann auch bei der „Er“-ziehung funktionieren. Erstaunlich ist: Verbieten Eltern hingegen viel und drohen ihren Kindern dabei, setzen sich diese Kinder mehr über die Verbote ihrer Eltern hinweg. Eine Beschränkung auf die nötigsten Verbote statt einer Nein-Welle bringt auf lange Sicht mehr Erfolg.

Warum hören Kinder nicht?

Minimi ist gerade in einer Phase: Sie testet ihre Grenzen, wie es so schön formuliert wird. Sie kann derzeit nicht anders als immer wieder zu probieren, dass das, was ich wollte, auch wirklich ernst gemeint war. Normalerweise reichte ein Nein und ich merkte, dass sie sich an die Regel halten kann. Das wurde natürlich honoriert, denn es ist eben keine Selbstverständlichkeit. In den letzten Wochen braucht es mehr „Neins“ und Erinnerungen an unsere Abmachungen. Sie sieht es als Spiel. Je nachdem, wann ich in der Situation dazukomme, trage ich sie weg und versuche sie auf ein neues Spiel zu lenken oder nehme sie aus der Situation mit den Worten und sage dazu „Ich glaube du hast vergessen, dass….“. Würde ich schimpfen, hätte es keinen Sinn, denn ist ein Spiel und ein Austesten.

Es gibt natürlich noch andere Gründe, warum ein Kind nicht hören möchte: Vielleicht möchte es Aufmerksamkeit auf sich ziehen oder es verbirgt sich ein Machtkampf hinter dem nicht hören. Es kann aber auch sein, dass das Kind mit zu vielen Verboten überfordert ist oder es fühlt sich ungerecht behandelt. Hier stellt sich dann die Frage, ob alle Regeln noch altersgemäß sind und ob es nicht die Möglichkeit gäbe, das Kind in die Entscheidung miteinzubeziehen.

Vielleicht steckt aber auch die falsche Strategie dahinter. Ein Nein durch die Wohnung zu rufen, bringt nichts. Eltern müssen präsent sein, also hingehen, ansehen, auf Augenhöhe, anfassen und dann mit dem Kind sprechen. Kinder merken es, wenn die Eltern nicht ganz bei der Sache sind und einfach weiter, womit sie gerade beschäftigt sind – ein Nein oder auch eine Bitte wird dann überhört. Wichtig ist auch, wie Eltern ihre Stimme einsetzen: Ein helles und hohes „okay“ am Ende des Satzes signalisiert Kindern, dass sich Eltern nicht sicher sind. Hingegen eine Stimme, die von oben nach unten geführt wird, kommt an. Beim nächsten Mal einfach darauf achten!

„Hab ich dir nicht schon tausendmal gesagt….“

Diesen Satz kennen wohl viele aus ihrer Kindheit und vielleicht haben sie ihn schon bei ihren eigenen Kindern gesagt. Ich schon. Ich stehe auch dazu, auch wenn es wahrlich keine erzieherische Meisterleistung war. Aber jeden dürfen einmal die Sicherungen durchgehen.

Ich weiß, dass meine Kinder eigene Entscheidungen treffen wollen und ja, ich habe Kinder und keine dressierten Hunde. Und ich erwarte nicht, dass sie immer folgen. Ich erwarte vielmehr von mir, dass mein Vorbild auch sie zu manchen Handlungen veranlasst, die ich gar nicht besprechen musste. Und ich erwarte von mir, dass ich klar differenziere, wann ein Nein notwendig ist oder nicht: Ist es lebensgefährlich? Könnte etwas kaputt gehen? Kann mein Kind die Regel überhaupt schon befolgen aufgrund seines Alters? Und könnte ich auch mit einem Ja leben? Das verringert das Frustrationspotential ungemein und verringert die „Neins“ automatisch. Unser Ja-Sager-Experiment hat gezeigt, dass ich unseren Kindern vertrauen und entgegenkommen kann.

Meine Strategien für weniger Neins im Kindergartenalter

  • Positive Formulierungen: Statt „Nein“ lieber „Probier doch, ob…..“
  • Alternative zu Nein: Stop. Stop wird nur im Straßenverkehr benutzt, wenn Minimi etwa mit dem Laufrad unterwegs ist. Darauf ist sie konditioniert, zu ihrer Sicherheit. Denn so schnell wie sie fährt, kann ich nicht laufen.
  • Wahlmöglichkeiten: Verkaufe ihnen eine Idee als die ihrige. Sie möchten mitentscheiden – also: die blaue oder die rote Hose?
  • Ablenkung bzw. aus der Situation nehmen: Wenn ich merke, dass gar nichts mehr geht, dann lenke ich mein Kind ab und versuche, seine Aufmerksamkeit umzulenken.
  • Vorbereitete Umgebung: Manchmal genügt es, Teile der Wohnung umzugestalten und umzuräumen, damit einige Neins wegfallen. Das muss nun kein Montessoriansatz sein, aber es ist schon etwas dran, viele Aktivitäten auf Kinderhöhe zu ermöglichen, damit sie echte Aktivitäten wie Kochen, Abwaschen oder Körperpflege selbst erledigen können. Gefährliche Kraxelmanöver werden so umgangen.
  • Ausnahmen sind in Ordnung: Würde ich mein Kind von morgens bis abends nur zurechtweisen, wären wir wohl beide schnell frustriert. Es ist also auch in Ordnung, Ausnahmen zuzulassen, wenn ich mit einem „Ja“ auch leben kann.

Wenn Schulkinder nicht mehr hören

Meine beiden Großen stecken in der Wackelzahnpubertät – eine kritische Lebensphase oder auch ein Vorbote der Pubertät. Juhu! Ich merke, wie wir immer öfter in Konflikt geraten, weil sie bestrebt sind, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Ohne Absprache mit uns. Letztens wollten sie ein Kasperltheater bei uns am Nachmittag veranstalten und haben etwa 10 Kinder dazu eingeladen. Ich wusste nur nichts von meinem Glück, weil es nicht abgesprochen war und ich noch einen wichtigen Termin hatte – ich kann zwar Home Office mit 3 Kindern praktizieren, aber nicht mit 13.

Meine Kinder werden autonom und machen einen großen Entwicklungsschritt – natürlich (und es musste ja so kommen), bin ich dann plötzlich die gemeine Mama, die so unfair ist, weil ja alle (!) ihre Freunde das dürfen. Die dürfen unter der Woche bei der Übernachtungsparty dabei sein, nur sie nicht. Mein Angebot, doch alle Mütter ihrer Freunde anzurufen um mich zu vergewissern, wurde abgelehnt, denn unterm Strich waren es nur ein paar.

Diese Konflikte sind wichtig und notwendig, weil sie Veränderung und Fortschritt bringen. Das Bild der harmonischen Bilderbuchfamilie habe ich längt verworfen. Wie heißt es so schön: Glückliche Familien streiten! Daraus ergeben sich dann neue Sichtweisen und Konfliktlösungswege. Wir sind an dem Punkt, da wird nicht mehr einfach so hingenommen, was wir sagen. Im Gegenteil: Es wird diskutiert, hinterfragt und auch boykottiert. Mein Kind aus der Situation zu tragen und mit einem anderen Spiel abzulenken wäre hier ebenso fehl am Platz wie zu sagen: Komm wieder ins Tragetuch (auch, wenn es viel leichter war).

Mein Kind will Reibung, es möchte seinen Standpunkt finden und üben, wie es ihn vertreten kann. Wenn ich dann mal wieder höre, wie gemein ich doch bin, könnte ich mich nun auf die Diskussion einlassen und sagen:“ Ich bin doch gar nicht gemein“ oder ich versuche zu verstehen, warum es ihr denn so wichtig ist. So kommen wir ins Gespräch und finden gemeinsam Lösungen. Etwa, dass wir das Kasperltheater gerne an einem anderen Tag machen können und dafür gemeinsam Einladungskarten basteln oder dass ihre Freundin gerne am Wochenende bei uns übernachten kann.

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